Neue Orte der Erinnerung? Die Debatten über das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, an Flucht und Vertreibung

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10. Januar 2023

Neue Orte der Erinnerung? Die Debatten über das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg, an Flucht und Vertreibung

Buchvorstellung und Diskussion mit Werner Sonne und Thomas Kreutzmann

In der Landesvertretung stellten die Autoren Werner Sonne und Thomas Kreutzmann ihr Buch „Schuld und Leid. Das Trauma von Flucht und Vertreibung vor“ und diskutierten mit der ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Monika Grütters und der deutsch-polnischen Journalistin Rosalia Romaniec Fragen der heutigen und zukünftigen Erinnerung an Flucht und Vertreibung in Deutschland.

bislang nicht bewertet

Die Idee zum Buch, so Co-Autor Thomas Kreutzmann, kam beim Joggen mit Werner Sonne. Im Gespräch wurden biographische Bezüge sichtbar. Das politisch oft kontrovers diskutierte Thema ragt in eigene Lebensgeschichten und die von Bekannten, Verwandten und Freunden hinein. Und es stellte sich schnell die Frage: Was passiert eigentlich heute mit dem Thema? Das harte Ringen um die Errichtung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung kommt sofort in den Sinn. Nachdem sich die Veröffentlichung wegen Corona hingezogen hatte, konnte das Werk im Herbst 2022 erscheinen. Ziel des Buches war, einen anderen Blick zu versuchen, nicht von links, nicht von rechts, sondern aus Mitte der Gesellschaft.

Flucht und Vertreibung haben nicht nur die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert besonders geprägt. Sie sind indes auch in diesem Moment aktuell, wo Menschen in kriegerischen Konflikten Leid erfahren und aus ihrem Leben gerissen werden und vor Gewalt und Zerstörung fliehen müssen. Mark Speich, Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen, erinnerte an die 14 Millionen Menschen, die im und nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertriebene unter schwierigsten Bedingungen gen Westen kamen und ihrer Heimat beraubt keineswegs immer mit offenen Armen empfangen wurden. Das schiere Ausmaß und die enorme Zahl von Betroffenen sorgen dafür, dass die damaligen Fluchtbewegungen und ihre Folgen bis heute bei uns Thema sind. Er spannte den Bogen zu den acht Millionen ukrainischen Binnenvertriebenen und den eine Millionen Ukrainern, die in Deutschland Zuflucht gefunden haben, eine viertel Million davon in Nordrhein-Westfalen. Mit ihrem Buch haben Kreutzmann und Sonne ein journalistisches „Opus Magnum“ vorgelegt, dass zunächst die Betroffenen in den Blick nimmt, das aber auch die Debatte um die Errichtung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung und den Wandel in der deutschen Gesellschaft im Diskurs über Erinnerung an Flucht und Vertreibung nachvollzieht.

Weder die Politik noch die Bevölkerung in Deutschland wollen einen Schlussstrich, bilanzierte Werner Sonne. Erste Versuche, das Geschehene abzuhaken und hinter sich zu lassen, haben nach 1945 nicht verfangen. Einen Schlussstrich hat es nicht gegeben und es darf ihn auch nicht geben. Das zeigt sich auch darin, dass sich neben der Erlebnisgeneration auch die zweite und dritte Generation der Vertriebenen intensiv mit der Fluchterfahrung auseinandersetzen. Nicht selten wirken erfahrene Traumata, das haben Gespräche gezeigt, auf ihre eigene Weise über mehrere Generationen hinweg.

Das 2021 eröffnete Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung zeigt, wie schwierig es ist, sich sichtbar mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Über zwanzig Jahre hat seine Realisierung gedauert vom ersten Anstoß Ende der 90er Jahre vom Bund der Vertriebenen mit einer nachgelagerten jahrelange in einem wahren Politkrimi erbittert geführten Debatte.

Bei der Eröffnung am 21. Juni 2021 sagte Direktorin und Historikerin Gundula Bavendamm, ohne den Nationalsozialismus hätte es keine Vertreibung, gegeben aber die Vertreibung war dennoch unrecht. Hingegen sprach die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht von Unrecht, sondern von deutscher Schuld und der Aufgabe, Vertreibungsgeschichte im Kontext von Ursache und Wirkung zu sehen und zu beschreiben. Darf man davon sprechen, dass Vertriebene auch Opfer waren, denen Leid und Unrecht geschah? Sowohl innerhalb Deutschlands aber auch speziell in Osteuropa gibt es dazu divergierende Auffassungen.

Monika Grütters war von 2013 bis 2021 in der Nachfolge von Bernd Neumann Staatsministerin für Kultur und Medien. Unter ihrer Ägide wurde das Dokumentationszentrum und die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Leben gerufen. Sie hob zunächst hervor, dass Kulturpolitik in Deutschland maßgeblich Gedenk- und Erinnerungspolitik sei. Vor dem Hintergrund, dass Deutschland auf seinem Boden zwei Diktaturen in einem Jahrhundert gesehen habe, sei dies unausweichlich. Grütters bestätigte den Befund einer intergenerative Wirkung der Vertreibungserfahrung. Nicht selten sei es die zweite Generation, auf die sich Traumata übertragen und bei denen der Erinnerungswunsch sehr präsent sei, während sich die Erlebnisgeneration bisweilen schwer tut darüber zu sprechen. Auch die dritte Generation beschleicht oftmals ein Gefühle, „da ist etwas unvollständig geblieben“. Sie wies auf das Buch der Journalistin Christiane Hoffmann mit dem Titel „Alles, was wir nicht erinnern. Zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters“ hin, in dem Hoffmann die Flucht ihres Vaters zu Fuß nachvollzieht und reflektiert.

Grütters skizzierte das schwierige Ringen um die Errichtung des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung von Ausgang im Koalitionsvertrag von 2005, über schwierige Verhandlungen mit Polen, den Kontroversen um und mit der ehemaligen Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen Erika Steinbach, der Standortwahl im Deutschlandhaus/Europahaus, bis hin zu Fragen der Benennung und bis ins Detail der Auswahl einer Schrifttype.

Grütters lobte Amtsvorgänger Bernd Neumann, der die ganzen schwierigen Diskussionen in Deutschland und mit der polnischen Seite geführt habe. Die Festlegung auf ein Dokumentationszentrum hinzubekommen, sei eine große politische Leistung. Es sei wichtig gewesen, diesen Standort zu wählen und gleichzeitig die Perspektive zu erweitern auf heutige und aktuelle Thematiken von Zwangsmigration, um Muster und Wiederholungen zu identifizieren. Das Zentrum hätte sonst eine viel geringere Berechtigung. Die Vertreibung der Deutschen ist nur ein Schwerpunkt, aber nicht der Schwerpunkt. Letztendlich, so Grütters, war der Streit jedoch begründet, und jede Perspektive hat ihre Berechtigung. Auch innerhalb des Bundes der Vertriebenen habe es sehr unterschiedliche Sichtweisen gegeben.

War die Vertreibung der Deutschen „unrecht“? Diese Frage will sie der Wissenschaft überlassen und nicht politisieren. Zur Versachlichung sollen Zeithistoriker beitragen. Nicht umsonst hat das Dokumentationszentrum einen wissenschaftlichen Beraterkreis, der derzeit aus 13 internationalen Wissenschaftlern besteht.

Die Journalistin Rosalia Romaniec hat das Thema Flucht und Vertreibung über Jahre journalistisch begleitet und sowohl für deutsche wie für polnische Medien geschrieben. Ein großer Schritt sei der Zwei-Plus-Vertrag und die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch Helmut Kohl gewesen. Auch haben das damalige Eintreten Deutschlands für eine EU- und NATO-Mitgliedschaft Polens ein neues Fundament in den deutsch-polnischen Beziehungen geschaffen. Vor diesem Hintergrund sorgte die Pläne für ein Zentrum zum gedenken an Flucht und Vertreibung Deutscher für Unsicherheit und starken Irritationen auf polnischer Seite, ja für Angst und Misstrauen. Zeitweise war Erika Steinbach die bekannteste Deutsche in Polen und dort bekannter als in Deutschland selbst. Die auf dem Titelbild von „Wprost“ seinerzeit veröffentliche Karikatur, auf der Steinbach in SS-Uniform mit Hakenkreuzbinde dominaartig auf dem Rücken Bundeskanzler Schröder ritt, sorgte dies- und jenseits der Oder für großes Aufsehen.

Viele Polen sind der Auffassung, dass die polnischen Leiden aus dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nicht bekannt seien. Für Unverständnis sorgt die einfache Tatsache, dass viele Deutsche bis in höchste Kreise zwar den jüdischen Ghetto-Aufstand von 1943, nicht aber den verheerenden Warschauer Aufstand von 1944 kennen oder gar beide verwechseln. Polen sieht sich aber als das Land, das am meisten zerstört wurde und noch zudem sowohl von Deutschland wie von der Sowjetunion überfallen wurde, mit beiden aber nie kollaboriert habe. Auch der in Deutschland geläufige Sammelbegriff „Osteuropa“ legt nahe, dass Geschichte über Jahrzehnte einfach und undifferenziert betrachtet wurde. Heute ist, so Romaniec, das Dokumentationszentrum politisch in Polen kein Thema mehr. Zudem kennen viele Polen auch viele gute Beispiele und viel Versöhnungsarbeit auf beiden Seiten.

Wie sieht die Zukunft der Erinnerungskultur von Flucht und Vertreibung und an den Zweiten Weltkrieg aus? Wie lassen sich die Beschlüsse des Deutschen Bundestags für weitere Gedenkorte mit dem Gedenkstättenkonzept vereibaren, das Täterorte, aber nicht einzelne Länder in den Mittelpunkt stellen will? Soll polnische Opfer mit einem eigenen Mahnmal einen Erinnerungsort erhalten? Führt dies angesichts von 230 Millionen Opfern von NS-Besatzung in 27 verschiedenen Ländern nicht zu einem Dominoeffekt und Opferhierarchien? Wie gehen wir in Deutschland angemessen mit den vielen Opfergruppen um? Diese Fragen standen am ende der Diskussionsveranstaltung und vielleicht am beginn weiterer Debatten.

Werner Sonne (Autor) war lange Jahre beim Westdeutschen Rundfunk tätig, als stellv. Chefredakteur für die Landesprogramme, als ARD-Korrespondent in Bonn, Hamburg und Berlin und als ARD-Studioleiter in Washington und Warschau. Zuletzt leitete der im ARD-Hauptstadtstudio das Morgenmagazin. Er ist Autor von Romanen und politischen Sachbüchern.

Thomas Kreutzmann (Autor) arbeitete über 40 Jahre als Korrespondent für die ARD und den Hessischen Rundfunk, darunter in Prag und Madrid sowie über zehn Jahre im ARD-Hauptstadtstudio Berlin. Kreutzmann hat zahlreiche familiäre Bezüge ins frühere Sudetenland und nach Pommern.

Prof. Monika Grütters gehört dem Deutschen Bundestag seit 2005 an. Von 2013 bis 2021 war sie als Staatsministerin im Bundeskanzleramt die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. In dieser Zeit wurde das Dokumentationszentrum „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlins Mitte, nach mehr als 20jähriger Planungs- und Bauzeit eröffnet.

Rosalia Romaniec leitet das Hauptstadtstudio der Deutschen Welle in Berlin. Sie wurde in Gliwice, dem früheren Gleiwitz in Schlesien geboren. Nach Anfängen im polnischen Lokaljournalismus studierte sie in Dortmund und Heidelberg. Als Autorin und Moderatorin war sie für die Deutsche Welle und für die ARD tätig und berichtete aus Deutschland für Polens wichtigste Tageszeitung Gazeta Wyborcza.

 

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