Rechtsstaatlichkeitsbericht 2021: Situation in den Mitgliedstaaten – Bewertung und Ausblick

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25. Oktober 2021

Rechtsstaatlichkeitsbericht 2021: Situation in den Mitgliedstaaten – Bewertung und Ausblick

Diskussion über das Instrument des Rechtsstaatlichkeitsberichts und die Lage des Rechtsstaates und der Medienfreiheit in ausgewählten Mitgliedstaaten

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Auf Einladung von Dr. Stephan Holthoff-Pförtner, Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales des Landes Nordrhein-Westfalen, veranstaltete die Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen bei der Europäischen Union am 25.10.2021 eine Online-Diskussion zum Rechtsstaatlichkeitsbericht 2021 der Europäischen Kommission. Es diskutierten Renate Nikolay, Kabinettschefin von Kommissionsvizepräsidentin für Werte und Transparenz Věra Jourová, und Dr. Lucia Schulten (DW Studio Brüssel).

In seinem Grußwort führte Minister Holthoff-Pförtner aus, dass der Bundesrat am 08.10.2021 mit großer Mehrheit einen Antrag unter Federführung von Nordrhein-Westfalen zum Rechtsstaatlichkeitsbericht 2021 verabschiedet habe. Das Anliegen der Kommission, Probleme der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten zu identifizieren, wird ausdrücklich begrüßt. Der Rechtsstaatlichkeitsbericht leiste einen essentiellen Beitrag dazu, ein vergleichendes und objektives Monitoring in Fragen der Justizsysteme, Korruptionsbekämpfung, der Medienfreiheit sowie der Gewaltenteilung als Grundlage für einen politischen Dialog in den und zwischen den Mitgliedstaaten zu ermöglichen. Er könnte allerdings in zweierlei Hinsicht effektiver ausgestaltet sein: (1) Einerseits könnte er sich noch stärker auf die Punkte konzentrieren, die für die Wahrung der Prinzipien des Artikels 2 des Vertrags der Europäischen Union (EUV) wesentlich sind. (2) Zudem müsste er klar benennen, wie festgestellte Missstände behoben werden könnten. Vor dem Hintergrund werde die Ankündigung der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, länderspezifische Empfehlungen in den Rechtsstaatlichkeitsbericht 2022 aufzunehmen, begrüßt. Die wichtige Neuerung werde den Mitgliedstaaten eine Orientierung dafür geben, welche Maßnahmen zur positiven Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit aus Sicht der Kommission getroffen werden müssten. Der Minister forderte die Kommission ausdrücklich dazu auf, den Konditionalitätsmechanismus gegenüber der polnischen Regierung einzusetzen. Die Gemeinschaft der Mitgliedstaaten könne nicht Gelder an einen Mitgliedstaat leisten, welches die grundlegenden Prinzipien der gemeinsam vereinbarten Verträge missachte und die Wertegemeinschaft vorsätzlich destabilisiere. Angesichts des jüngsten Urteils des polnischen Verfassungsgerichts, welches des Vorrang des Unionsrechts in Frage stelle, sei entschlossenes Handeln der Kommission gefragt.

Frau Nikolay betonte in der Diskussion, dass sich der Rechtsstaatlichkeitsbericht, den die Kommission in diesem Jahr bereits zum zweiten Mal vorgelegt habe, mittlerweile als präventives Instrument in der Debatte um die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten etabliert habe. Der Bericht sei bei seiner ersten Veröffentlichung 2020 Pionierarbeit gewesen, nunmehr habe man ihn konsolidiert. Die Mitgliedstaaten hätten zuletzt auf dem Rat für Allgemeine Angelegenheiten am 19.10.2021 in der Aussprache mit Justizkommissar Didier Reynders weitüberwiegend ihre Unterstützung für den Rechtsstaatlichkeitsbericht zum Ausdruck gebracht. Frau Nikolay unterstrich, dass jeder Bericht das Ergebnis breiter Diskussionen mit den Mitgliedsstaaten und anderen Stakeholdern sei und der laufende Diskussionsprozess das gegenseitige Verständnis erheblich vertieft habe. In der Folge sei der Rechtsstaatlichkeitsbericht 2021 mehr auf die Entwicklungen seit dem letzten Bericht fokussiert, um Fortschritte aber auch anhaltende Probleme herauszustellen. In Bezug auf Deutschland erklärte Frau Nikolay, dass die Weisungsgebundenheit der Staatsanwaltschaften ein Problem sei, insbesondere im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zum Europäischen Haftbefehl. Auch sei die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Staatsanleihenkauf durch die Europäische Zentralbank (BVerfGE 154, 17) und der hierin aufgeworfenen Frage des Vorranges des Unionsrechts im Rechtsstaatlichkeitsbericht diskutiert worden.

Hinsichtlich der Diskussion der Ergebnisse des Rechtsstaatlichkeitsberichts mit den Mitgliedstaaten führte Frau Nikolay aus, dass es sich seit der deutschen Ratspräsidentschaft bewährt habe, dass der Bericht auf dem Rat für Allgemeine Angelegenheiten allgemein vorgestellt werde und anschließend fünf ausgewählte Mitgliedstaaten spezifisch besprochen würden. Die Übung sei seitdem von allen Ratspräsidentschaften übernommen worden, so auch von der amtierenden slowenischen Präsidentschaft. Darüber hinaus führe die Kommission Gespräche mit den nationalen Parlamenten über den Bericht und auch in einer breiteren (Fach-)Öffentlichkeit habe er zu einer Diskussion über die Bedeutung des Rechtsstaates und der Medienfreiheit geführt.

Auf Nachfrage von Frau Schulten, wie man sich die angekündigten länderspezifischen Empfehlungen im nächsten Rechtsstaatlichkeitsbericht vorstellen könnte, erläuterte Frau Nikolay, dass auch der aktuelle Bericht bereits an einigen Stellen zumindest implizite Empfehlungen für die Mitgliedstaaten enthalte. Konkrete Empfehlungen seien nach ihrer Einschätzung ausgehend hiervon kein allzu großer Schritt mehr. Eine Nachbereitung der im Bericht aufgeworfenen Themen könne durch Empfehlungen jedoch vereinfacht werden. Frau Nikolay unterstrich, dass Empfehlungen dabei auch – im Sinne des präventiven Ansatzes des Rechtsstaatlichkeitsberichts – besonders positive Aspekte in einem Mitgliedstaat hervorheben könnten. Allein die Tatsache, dass Probleme und Entwicklungen im Rechtsstaatlichkeitsbericht angesprochen würden, könne insbesondere in einem frühen Stadium dazu beitragen, diese zu lösen. Als Beispiel nannte Frau Nikolay die Debatte um die Besetzung des spanischen Justizrates; hier habe die Erwähnung im Rechtsstaatlichkeitsbericht für eine lösungsorientierte Diskussion in Spanien gesorgt. Auch in der Slowakei seien Ergebnisse aus dem Rechtsstaatlichkeitsbericht bei der Durchführung einer Justizreform aufgegriffen worden. Insgesamt stehe die Kommission sowohl mit den Regierungen der Mitgliedstaaten als auch mit der dortigen Zivilgesellschaft in einem dauernden Austausch über die Lage des Rechtsstaats.

Im Verhältnis zu den möglichen Sanktionsmöglichkeiten der Kommission bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit (Vertragsverletzungsverfahren, Verfahren nach Art. 7 des Vertrages über die Europäische Union (EUV), Konditionalitätsmechanismus) betonte Frau Nikolay, dass der Rechtsstaatlichkeitsbericht als präventives Instrument hier eine wichtige Ergänzung sei. Dieser helfe Probleme überhaupt erst zu identifizieren, um hierauf dann ggf. reagieren zu können. Die Kombination aus Dialog und Aktion sei entscheidend zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit in der Union. Der Rechtsstaatlichkeitsbericht sei dabei kein Vorverfahren für ein Vertragsverletzungsverfahren oder zur Anwendung des Konditionalitätsmechanismus.

Frau Schulten warf angesichts des aktuellen Urteils des polnischen Verfassungsgerichts, welches die Art. 1 und 19 EUV für mit der polnischen Verfassung für unvereinbar erklärt und den Vorrang des Unionsrechts insoweit ablehnt, die derzeit brennende Frage auf, wann der Konditionalitätsmechanismus zur Anwendung gelangen könne. Frau Nikolay betonte, dass das Monitoring der Situation in den Mitgliedstaaten seit dem Inkrafttreten der Verordnung laufe, eine Aktivierung des Mechanismus jedoch erst nach dem Urteil des EuGH über die polnische und ungarische Klage gegen dieses Instrument in Frage komme. Ebenfalls könnten Richtlinien zum Einsatz der entsprechenden Verordnung erst nach einem Judikat aus Straßburg verabschiedet werden. Durch dieses Abwarten gehe indes kein Fall verloren. Frau Nikolay verwies zudem darauf, dass Kommissionspräsidentin von der Leyen die Möglichkeit einer vorgelagerten Sachverhaltsaufklärung durch entsprechende Schreiben an die Mitgliedstaaten in Aussicht gestellt habe. Einer etwaigen Untätigkeitsklage des Europäischen Parlamentes gegen die Kommission sei man sich bewusst und nehme interinstitutionelle Streitigkeiten sehr ernst. Angesichts des kurz zuvor abgehaltenen Europäischen Rats betonte Frau Nikolay, dass sich auch die Staats- und Regierungschefs lange mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit und der aktuellen Entwicklung in Polen befasst hätten. Das unterstreiche die Wichtigkeit des Themas und sei ein positives Signal. Für die Kommission sei der Vorrang des Unionsrechts mit Blick auf das aktuelle Urteil des polnischen Verfassungsgerichts von besonderer Wichtigkeit. Hier könnten, ähnlich wie nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Staatsanleihenkauf – welches mit der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts materiell nicht vergleichbar sei –, Maßnahmen der Kommission folgen. Mit Blick auf Polen erwarte die Kommission weiterhin, dass Urteile des EuGH bezüglich der polnischen Disziplinarkammer für Richter umgesetzt würden, weswegen die Kommission diesbezüglich die Verhängung von Zwangsgeldern beim EuGH beantragt habe. Frau Nikolay betonte hierzu, dass es von polnischer Seite durchaus Signale gebe, die Disziplinarkammer bis zum Ende des Jahres zu reformieren. Insgesamt unterstrich sie, dass man mit der polnischen Seite weiterhin im Dialog bleiben müsse und dass es im Interesse der Union sei, mit Polen weiter an seiner Justizreform zu arbeiten – die Kommission werde aber ihre Verantwortung als Hüterin der Verträge wahrnehmen und die Entwicklung genau beobachten.

Über Polen hinaus sehe die Kommission auch problematische Entwicklungen der Medienfreiheit in Slowenien und Ungarn. Zudem habe die Kommission auch die fortlaufenden Entwicklungen in Rumänien und Bulgarien im Blick, gerade auch angesichts aktueller innenpolitischer Probleme in diesen Mitgliedstaaten. In Rumänien habe es ebenfalls zuletzt im Juni 2021 eine verfassungsgerichtliche Entscheidung gegeben, die den Vorrang des Unionsrechts ggf. in Frage stelle. Die Kommission habe insoweit bereits ein Schreiben zur Stellungnahme an Rumänien verschickt. Eine Häufung derartiger Judikate durch Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten sei jedoch kein Lauffeuer.

Abschließend ging Frau Nikolay noch auf die Arbeiten der Kommission zur Ausarbeitung eines „Media Freedom Act“ ein. Insbesondere angesichts von Gewalttaten gegen europäische Journalisten sei die Kommission bestrebt, die Medienfreiheit und Vielfalt durch eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten zu stärken. Ebenso sei die Kommission über die Konzentration von Medienmacht und unklare Eigentümerstrukturen in einigen Mitgliedstaaten besorgt. Die Entwicklung stehe aber bezüglich einer Regulierung noch sehr am Anfang, weswegen zunächst eine öffentliche Konsultation durchgeführt werden solle.

Video der Veranstaltung vom 25.10.2021

 
 

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