
NRW im Gespräch: „Warum Europa eine Republik werden muss“
Prof. Dr. Ulrike Guérot stellt mutige Utopie zur Diskussion
Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „NRW im Gespräch – Denkwerkstatt Europa“ mit der Stadt Wien diskutierten am 06.09.2016 in der Landesvertretung NRW Prof. Dr. Ulrike Guérot, Direktorin des „European Democracy Lab“ aus Berlin, Dr Ulrich Speck, Außenpolitikexperte der Neuen Züricher Zeitung, und der Chefredakteur der Wiener Zeitung Reinhard Göweil über die Frage „Warum Europa eine Republik werden muss“. Das Thema ist gleichzeitig Titel des aktuellen Buches der Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Guérot, in dem diese ihr Konzept zur Zukunft Europas vorstellt. Ausgangspunkt ist eine kritische Bewertung der Brüsseler Trilogie aus dem Europäischen Parlament, welches kein Initiativrecht besitzt, dem Rat, der vor allem nationale Interessen vertritt, und der Europäischen Kommission, die als Hüterin der Verträge die eigentliche Funktion eines Gerichtshofs übernehme. Prof. Dr. Guérot legte dar, dass nicht die Staaten souverän seien, sondern deren Bürger. Mit einem souveränen Bürger sei nach ihrer Ansicht grundsätzlich auch eine europäische Republik denkbar.
Erforderlich sei die Gleichheit jenseits von Nationen. Die Kernthese des Buches sei daher, dass jeder EU-Bürger vor dem EU-Recht gleich sein müsse. Die Ideen der großen Klassiker des Neo-Liberalismus seien pervertiert worden, eine soziale Kontrolle der Märkte finde nicht mehr statt und die „Bürgerunion“ der Maastrichter Verträge gebe es nicht. Ferner werde die EU durch eine „Politik der alten Männer“ beherrscht. Sie konstatierte daher, dass die EU „dekonstruiert“ werden müsse, und entwarf eine alternative institutionelle Struktur einer Europäischen Republik mit einem Europäischen Senat mit 100 Senatoren, einem EU-Präsidenten und einem Europäischen Repräsentantenhaus, basierend auf den 50 Regionen Europas.
Rainer Steffens, Leiter der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen, bemerkte in seinen Begrüßungsworten: „Wenn Ulrike Guérot fordert, dass die europäischen Regionen sich unter einem republikanischen Dach vernetzen sollen, dann klingeln natürlich bei einem Vertreter einer großen europäischen Region die Ohren. Und der Satz erinnert an einen Traum, den die europäischen Regionen Anfang der 90er Jahre geträumt haben - den Traum vom ´Europa der Regionen´. Mit dem Maastrichter Vertrag und der Einrichtung des Ausschusses der Regionen war - wenn auch etwas illusorisch - die Hoffnung verbunden, dass der Nationalstaat sich im Laufe der Zeit von selber überflüssig machen würde und die Regionen unter einem starken Dach Europa die Geschicke selber in die Hand nehmen könnten. Doch die Beharrungskräfte des Nationalismus sind stärker, als wir damals gehofft hatten. Im Gegenteil: In der heutigen Situation ist zu befürchten, dass der wieder erstarkte Nationalismus die Grundpfeiler der Europäischen Union beschädigt. Wenn Ulrike Guérot diese alte Idee in einem neuen Konzept wieder aufgreift, werden wir diese Debatte mit großer Aufmerksamkeit mitverfolgen.“
In der Podiumsdiskussion führte zunächst Reinhard Göweil aus, dass nur 26 Prozent der EU-Bürger der EU noch vertrauen würden. Es bestehe auch nach seiner Ansicht ein institutionelles Dilemma, dass Anlass zu Veränderungen geben müsse. Zudem habe sich in der EU die Idee festgesetzt, dass Regeln wichtiger seien als deren Folgen. Zum Beleg seiner These verwies er auf die Wiederholung der Präsidentenwahl in Österreich. Insgesamt sei ein Versagen der politischen Mitte festzustellen. Die EU und die staatstragenden Parteien der Mitte seien nicht mehr in der Lage, Antworten auf bestimmte wichtige Fragen und Zukunftsthemen zu geben, so dass sich insbesondere die Jugend zusehends von der EU als solche distanziere. Dies wiederum sei ein Grund für das Erstarken der Populisten.
Dr. Ulrich Speck pflichtete dieser Position bei und betonte, dass die Mitte sprachlos sei und das politische Establishment zusehends unter Druck gerate. Gegenüber Prof. Guérots Utopie zeigte er dennoch eine gewisse Skepsis und stellte infrage, ob ein ‚Superstaat‘ aus 440 Millionen Bürgern wirklich egalitärer sein könne. Er führte zudem an, dass eine Dekonstruktion der EU eher zu einer Art Weimarer Republik zurück führen würde, in welcher Nationalstaaten miteinander konkurrieren und Misstrauen gegeneinander schüren. Es käme zudem eher zu einer Konfrontation als zu weiterer Kooperation – und diese sei schließlich eine der größten Errungenschaften der EU. Dennoch betonte auch er, dass eine radikale Infragestellung der Institutionen vonnöten sei.
Zur abschließenden Frage, wo die EU im Jahr 2045 stehen werde, erklärte Dr. Speck, dass er nicht an eine Europäische Republik, gar an eine große systematische Veränderung glaube, da zu viele Stakeholder in der EU vorhanden seien. Der gemeinsame Binnenmarkt werde weiter Bestand haben. Reinhard Göweil artikulierte, dass sich der gesamte europäische Kontinent wirtschaftlich und kulturell weiterentwickeln und womöglich eine zunehmend anarchische Tendenz aufweisen werde.
Prof. Guérot selbst äußerte Zweifel, ob die EU bis zum Jahr 2045 tatsächlich als Republik ausgestaltet sei. Gleichzeitig machte sie deutlich, dass künftige Ereignisse, auch umwälzender Natur, nicht absehbar seien. In diesem Zusammenhang sei es von Vorteil, ein alternatives Konzept „in der Schublade“ zu haben.