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Foto: Landesvertretung NRW | Nadine Zilliges
9. Juni 2023
„Metaphern sind für eine Stadt ebenso wichtig wie die Straßenschilder“
Ukrainische Literatur mit der Autorin Tanja Maljartschuk
Matthias Roßbach, der Leiter der Landesvertretung, erinnerte in seiner Begrüßung eingangs daran, dass wir erst kürzlich bei der Veranstaltung zur „Zukunft des Westens“ den politischen Weg der Ukraine nach Westen diskutiert hatten. Nordrhein-Westfalen steht in diesen Zeiten fest an der Seite der Ukraine, will Brücken bauen, und das ist auch gang konkret gemeint. Nicht nur unterstützt das Land die Ukraine mit Hilfsgütern. Es hat auch eine neue Regionalpartnerschaft mit der ukrainischen Oblast Dnipropetrowsk ins Leben gerufen. Nun stand erneut die Ukraine im im Mittelpunkt. Diesmal die ukrainische Literatur in unserer Reihe EUROPAerlesen. Roßbach begrüßte neben den zahlreichen literaturinteressierten Gästen auch einen Diplomaten der ukrainischen Botschaft. Vadym Nagaychuk, Dritter Botschaftssekretär, lobte die starke Rolle Nordrhein-Westfalens bei den Regiponalpartnerschaften merkte passend zur Veranstaltung an: „Künsterlinnen und und Künstler sind unsere Diplomaten“.
Und die künstlerische Diplomatin des Abends war die ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk. Wie schreiben ukrainische Autoren eigentlich in diesen Zeiten? Michael Serrer von Literaturbüro NRW stellte fest: Alle wichtigen ukrainischen Autoren arbeiten derzeit nicht mehr fiktional. Sie würden gerne Geschichten schreiben, stattdessen produzieren sie vor allem journalistische Tagesarbeiten oder fungieren als Kulturvermittler und „Erklärer“ ihres Landes.
Unser Gast, die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk, hatte sich daher für unseren Abend etwas Besonderes ausgedacht. Sie startete mit dem Essay „Die Heimat im Rucksack“ aus ihrem 2022 erschienenen Buch „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“. In dem Essay rekapituliert sie die Zeit, seit sie die Ukraine vor neun Jahren verließ und reflektiert darin mit einem Augenzwinkern Eigen- und Fremdsichten und Identitäten.Für den Großteil des Abends aber hatte sie Klassiker der ukrainischen Literatur ausgewählt - manche sind kaum ins Deutsche übersetzt - deren Texte die Sprecherin Verena Noll wunderbar vortragend lebendig werden ließ.
So hörten wir die Satire „Der Besserwisser“ von Iwan Franko aus dem Jahr 1906. Frankos Œuvre ist ein Schatz. Es wird auf mehrere tausend Werke mit einem Gesamtvolumen von mehr als 100 Bänden geschätzt.
Es folgte das Prosastück „Der Nachtfalter“, den die Autorin Lesja Ukraïnka, eine Vertreterin der Neuromantik, 1898 schuf. Lesja Ukraïnka sprach sieben Sprachen fließend, setzte sich für die Emanzipation ein und eine der wichtigsten Frauenfiguren in der ukrainischen Literaturgeschichte. Ein Nachtfalter lebt sein Leben in einem düsteren Keller zusammen mit einer Fledermaus. Der Falter denkt über sein Leben im Keller nach, träumt vom Unbekanntem, dem Licht, vor dem ihn alle warnen. Schließlich fliegt er hinein und verbrennt.
Weiter ging es mit dem Nationaldicher Taras Schewtschenko. Sein Denkmal in Kiew wurde Ende Februar im Krieg zerschossen. Schewtschenkos Leben, sagte Tanja Maljartschuk, gehört auf Netflix verfilmt. Der Dichter, der ein ebenso talentierter Maler war, wurde mehrfach denunziert, schließlich zu einem lebenslangen Soldatendienst im untersten Range verurteilt und zum Dienst an die Grenze zu Kasachstan verbracht. Es wurde ihm verboten zu schreiben oder zu malen. Wir hörten einen Auszug aus seinem Tagebuch vom 1857. Darin beschreibt er eindringlich, wie er mit dem unfreiwilligen Soldatendasein als „seelenlose Maschine“ hadert und unter dem ihm auferlegten Schreib- und Malverbot leidet, das er aber immer wieder umgeht, nur um erneut deunziert und bestraft zu werden. Taras Schewtschenko wird in der Ukraine als die bedeutendste historische und literarische Gestalt verehrt. Viele seine Text kennt nahezu jeder.
Den Abschluss bildete der Text „Intermezzo“, den Mychajlo Kozjubynskyj 1908 verfasste. Anders als Schewtschenko führte Kozjubynskyj ein langweiliges Leben und schrieb langweilige Briefe, so Maljartschuk. Der Literat war als Beamter unter anderem damit befasst, Traubenschädlinge zu bekämpfen. Seine Werke sind nicht ins Deutsche übersetzt, dennoch: Seine literarischen Texte gelten als die schönsten, die je auf Ukrainisch geschrieben wurden. Zu Recht nimmt er den Rang einer der bedeutendsten ukrainischen Schriftsteller des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ein. Kotsyubynsky, ein Impressionist und ein bemerkenswerter Vertreter des Psychologismus, war stark beeinflusst von Nechuy-Levytsky, Panas Mirnyi, Guy de Maupassant, Tschechow und auch von schwedischen Schriftstellern. Kotsyubynsky wurde 1882 wegen seiner Verbindung zur nationalen Befreiungsbewegung verhaftet und danach geheimdientlich überwacht.
Eingerahmt wurde die Lesung, die eine wahre Entdeckungstour zur ukrainische Literatur bot, durch die verblüffende Musik von Ganna Gryniva. Die ukrainische Sängerin und Komponistin bediente sich im Steinbruch ukrainischer Folklorelieder und verwob das Material mit ihrer Stimme zu kunstvoll geloopten Vokalschichten, die sich aufschaukelten, verquirlten, und mal im 5/4 oder 6/8-Takt über elektronischen Tremoli, Beats und fundierten Bässen zu einem vielstimmigen harmonischen Chor verbanden.
Tanja Maljartschuk schloss mit den Worten: „Die ukrainische Literatur ist klein. Klar, wenn sie nicht übersetzt wird. Aber sie ist nicht groß, und sie ist nicht klein. Sie ist ausreichend. Lesen Sie Bücher, denken Sie nach. Ich, Tanja Maljartschuk, war heute DJ der Toten.“
Die Autorin
Tanja Maljartschuk gehört zu den wichtigsten Autorinnen der Ukraine. Geboren wurde sie 1983 in der westukrainischen Universitätsstadt Iwano-Frankiwsk, heute lebt sie in Wien. 2018 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. In ihrem neuen Essay-Band „Gleich geht die Geschichte weiter, wir atmen nur aus“ zeigt die Autorin, was die Expansionspolitik Russlands mit der Ukraine und ihren Menschen anrichtet – und das nicht erst seit 2022. Gegen den Krieg und den Versuch, die Identität eines ganzen Landes auszulöschen, setzt Tanja Maljartschuk auch einen Überblick über die ukrainische Literatur. Sie hat Texte ausgesucht, die von der Sprecherin Verena Noll vorgetragen werden.
Die Vorleserin
Verena Noll absolvierte ihre Schauspielausbildung am Konservatorium in Wien und arbeitete danach an zahlreichen Theatern in Deutschland und Österreich (u.a. Staatstheater Wiesbaden, Staatstheater Darmstadt, Altes Schauspielhaus Stuttgart, Kleines Theater Salzburg, Oper Leipzig). Seit 2002 lebt sie als freischaffende Schauspielerin, Sprecherin und Theaterpädagogin in Leipzig und spielte u.a. bei der Inselbühne, der Theaterturbine, bei Produktionen im LOFFT, der Schaubühne Lindenfels, der nato. Als Sprecherin arbeitet sie u.a. für den MDR, den Buchfunk Verlag, für LOOKS Film und macht zahlreiche Lesungen. Seit einigen Jahren gibt Verena Noll Sprechtraining an der Neuen Musik Leipzig.
Die Musikerin
Die ukrainische Jazz- und Weltmusikerin Ganna Gryniva kam mit 13 Jahren 2002 mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland. Heute gilt sie als „eine der eindrucksvollsten Sängerinnen und Musikerinnen der Europäischen Jazz- und Weltmusikszene“ (Miriam Jessa, ORF). Ihr neues Album Home erschien im November 2022 und wurde von der Musikpresse als "Album des Jahres" (Ulrich Habersetzer, DLF Kultur) und "Jazz-Highlight des Jahres" (Roland Spiegel, Bayerischer Rundfunk) gefeiert. Sie lebt in Berlin.
Die Reihe EUROPAerlesen
In der seit nunmehr 16 Jahren bestehenden Reihe lesen renommierte europäische Autorinnen und Autoren aus ihren aktuellen Werken und diskutieren über zentrale europäische Fragen. Die Autorengespräche und anschließende Diskussionsrunden moderiert Michael Serrer.