
Fit for 55: Transformation, Herausforderung, Chance!
Diskussionsveranstaltung zum Klimapaket der Europäischen Union
Mark Speich, Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten, Internationales sowie Medien des Landes Nordrhein-Westfalen eröffnete die Veranstaltung mit der Bemerkung: Dass Thyssen-Krupp in diesen Tagen in Dortmund ein neues Stahlbeschichtungswerk eingeweiht hat, zeigt, dass Stahl nicht etwa altmodisch, sondern Zukunftswerkstoff sei. Das Vorurteil, CO2-Freiheit bringe Deindustrialisierung, stimme mitnichten, denn in Wirklichkeit gehen Industriestandort und Dekarbonisierung zusammen. Für das Ziel der EU, die Nettotreibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1900 zu senken, ist die Energieindustrie ein zentraler Hebel. Die Europäische Kommission hat dieses Jahr ein umfangreiches Gesetzespaket vorgelegt, dass zahlreiche Sektoren umfasst, darunter etwa Energie, Verkehr, Steuern oder Landnutzung. Wird aber in Zeiten einer Energiekrise und inflationären Drucks der Umstieg auf eine CO2-neutrale Wirtschaft auf die lange Bank geschoben? Nein, die Transformation zur Klimaneutralität, so Speich, bleibt die größte politische Herausforderung unserer Zeit. Nordrhein-Westfalen will die erste klimaneutrale Industrieregion Europas werden. Wenn wir es in NRW schaffen, so der Staatssekretär, kann man es überall schaffen. Ein Element dabei ist grüner Wasserstoff. Nordrhein-Westfalen wird seinen Bedarf zu 30 Prozent selbst aus heimischer Produktion decken können, die übrigen 70 Prozent müssen importiert werden. Dabei sind die Seehäfen Antwerpen und Rotterdam von zentraler Bedeutung. Das war deshalb auch Thema, das Ministerpräsident Hendrik Wüst kürzlich in den Haag besprochen hat. Über eine neue Pipelineverbindung mit dem Namen "Delta Corridor" soll künftig Wasserstoff aus dem Rotterdamer Hafen nach Nordrhein-Westfalen fließen. Das zeigt, dass man Energiepolitik nur europäisch und international diskutieren kann. Belgien und die Niederlande unterstützen derzeit gut bei Gaslieferungen nach Deutschland, was bei der Unabhängigkeit von russischem Gas hilft. Der weg zur Klimaneutralität ist eine gewaltige Herausforderungen für die Industrie, bedeutet sie doch die Umstellung jahrhundertelang erprobter chemischer und physikalischer Prozesse. Darin liegt aber auch die Chance, die Dekarbonisierung wettbewerbsfähig zu machen, Industriearbeitsplätze zu erhalten und Technologie zu exportieren. In Nordrhein-Westfalen sind wir uns aus den Erfahrungen bei Ausstieg aus der Steinkohle besonders bewusst, so Speich, dass wirtschaftlicher Wandel auch eine soziale Dimension hat. An Rhein und Ruhr sei es aber deutlich besser gelungen, soziale Verwerfungen abzufedern, als in anderen Ländern, die einen ähnlichen Strukturwandel durchlaufen.
Peter Liese, Europaabgeordneter und Koordinator der EVP-Fraktion im Ausschuss für Umwelt, Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, war live aus Straßburg zugeschaltet. Er erinnerte daran, dass sich derzeit drei Krisen überlagern: Erstens die dramatische Entwicklung bei den Energiepreisen. Viele Unternehmen wissen nicht, wie sie durch den Winter kommen, auch private Haushalte sind schwer herausgefordert. Zweitens der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Liese wies darauf hin, dass wir nach wie vor russische Gasrechnungen bezahlen und seit Ausbruch des Krieges Mittel entrichtet haben, die vom Volumen das russische Militärbudget übersteigen. Liese plädierte dafür, für eine Übergangszeit auch weiter Kohle und Kernenergie zu nutzen. Im Europäischen Parlament haben viele, darunter auch Grüne wenig Verständnis, dass wir nicht alle Kapazitäten in der Kernenergie ausnutzen. Die Entscheidung des Bundeskanzlers zum Weiterbetrieb komme nach Liese zu spät, sei zu wenig und werde nicht Bestand haben. Drittens dürfe die Klimakrise nicht hintenan gestellt werden. Starkwetterereignisse, Wassermangel und Hitzewellen zeigen: Klimawandel ist keine Sache von Eisbären oder Inselstaaten, sondern findet auch mitten in Europa statt. Deshalb geht um Signal für die internationale Gemeinschaft: Die EU muss Führung übernehmen, nur so können wir andere motivieren, sagt Peter Liese. Europa müsse beweisen, Klimaneutralität so hinzubekommen, dass andere wirklich folgen. Klimaneutral werden und Industrieland bleiben, das ist nach Liese der richtige Ansatz, den Ministerpräsident Wüst verfolgt.
Erika Mink-Zaghloul, Head of Governmental Affairs bei Thyssen-Krupp, berichtete, dass auch ihr Unternehmen von der Energiepreisexplosion betroffen sei. Allerdings produziere etwa der Standort Duisburg seine Energie größtenteils selber, sei deswegen nicht so exponiert wie andere. Zudem könne man gestiegen Kosten nicht so einfach an Kunden weitergeben. Sie hält es für richtig, die kostenlose Zuteilung beim ETS auslaufen zu lassen. Der entscheidende Punkt sei aber, wie schnell dies geschehe. Dieser Prozess muss synchron mit den Transformationsfortschritten verlaufen. Man kann aber nur bedingt „schneller“ transformieren. Für manche neue Technologie gibt es nur ein, zwei Anbieter weltweit. Zudem gibt es Schwierigkeiten, geeignetes Personal für die Transformation zu finden. Ggenehmigungsverfahren gehen zu langsam, deswegen reden alle vom Beschleunigen. Aber es handelt sich oft um neue Verfahren, teilweise ist unklar, wie man sie im Genehmigungsverfahren konkret behandelt. Kurz: Selbst wenn man gebug Geld hätte, es geht nicht immer schneller. Insgesamt unterstützt Mink-Zaghloul die von der Kommission gesetzten, berechtigten Ziele. Schwierigkeiten gebe es aber beim Dialog zwischen Gesetzgebung und Praktikern, der enger, kooperativer und schneller werden müsse. Bis 2030 sind es nicht einmal acht Jahre. Da darf es keine Stolpersteine geben. Beispielsweise sollte man das ETS nicht so bauen, dass es Investitionen hemmt. Es gilt, sich auf das zu fokussieren, was strategisch wichtig ist, damit wir schnell vorankommen, und von ideologischen Themen wegzukommen. Der CO2-Fußabdruck ist das Entscheidende.
Nach Stefan Lechtenböhmer, Wissenschaftlicher Leiter beim Kompetenzzentrum SCI4climate.NRW ist es zwar richtig, dass fossile Energie teurer werden und die ökologische Wahrheit sagen muss. Allerdings gestaltet sich der derzeitige Preisanstieg zu heftig und zu schnell. Vielleicht helfe das aber dabei, Bewusstsein zu schaffen und Tempo zu machen. Energie muss aber insgesamt bezahlbar bleiben. Dafür müsse man Infrastruktur und Märkte schaffen, wofür die EU ein großes Potenzial besitze, indes gehe es nicht schnell genug. Nachlegen, so Lechtenböhmer, müsse man bei der Unterstützung für die Industrie, bei Investitionen und Innovationen. Gut sei, dass Fit for 55 einen integrierten Ansatz über zahlreiche Sektoren verfolge. Von den politischen Akteuren wünscht er sich wesentlich mehr Pragmatismus in der dreifachen Krise. Die Transformation muss von Dialog flankiert werden. Der einseitige „Doppelwumms“ der deutschen Politik sei in Europa nicht gut angekommen. Umso wichtiger ist es, dass Nordrhein-Westfalen europäisch denkt und mit Partnerregionen in den Niederlanden, Polen und Frankreich eng kooperiert. Nach Lechtenböhmer muss der Wandel zu Innovationstreiber werden, die Industrie sich neu erfinden. Wir brauchen eine deutlich andere Energieinfrastruktur. Technische Innovationen sind dabei eine große Chance, zumal für ein Technologieland, das Technologie auch weltweit exportieren will. Dafür bedarf es aber im gleichen Maße auch institutioneller Innovationen für die Gestaltung und Zusammenarbeit. diese sind eine zentraler Innovationsaspekt, um geeignete Politikinstrumente im Dialog nicht im Hinterzimmer zu entwickeln. Für die Zukunft wünscht sich Lechtenböhmer, die Regulierung zu beschleunigen, grüne Märkte zu schaffen und eine pragmatischere Lösungssuche.
Julia Metz, Leiterin Industriepolitik bei Agora Energiewende sieht die Gefahr, dass für manche Akteure einfacher werde, auf alte Pfade zurückzukehren, wenn nun Rufe nach Kohle oder Kernenergie lauter werden und den Ausbau der Erneuerbaren bremsen. Zudem besteht die Sorge, dass sich die Fit- for-55-Verhandlungen mit der aktuellen Energiekrisenbekämpfung vermengen. Den Ansatz von Fit for 55 hält sie für sehr ist sehr klug. Für die Reform des Europäischen Emissionshandels ETS gibt es einen klaren Ordnungsrahmen, insbesondere für das Abschmelzen der kostenlosen Zuteilungen. Jetzt gilt es, die Industrie bei Investitionen zu unterstützen und Leitmärkte zu schaffen. ein großer europäischer Markt sei dabei der richtige Ansatz. Ihr Credo: Alles was man europäisch machen kann, sollte man europäisch machen. Der europäische Gedanke muss, so Metz, durch die Krise hindurch erhalten bleiben, Fliehkräfte und Nationalisierungstendenzen dürfen nicht zu groß werden. Klimapolitik geht nur miteinander. Was optimistisch stimmt: Während die fossile Welt basierend auf Verbrennungstechnologie ineffizient ist, gibt es gute Entwicklungen bei der strombasierten Substitution ist, etwa bei der Batterieentwicklung der letzten zwei Jahre. Europa muss hier weiter gehen und mit ambitionierten Zielen und Förderung von Erneuerbaren in einen starken Hochlauf kommen. Dabei gilt es, den globalen Süden nicht zu vergessen und die Verantwortung so wahrzunehmen, dass dort Kosten gesenkt werden können.
Berthold Goeke, Unterabteilungsleiter für nationale und europäische Klimapolitik im Bundesministerium für Wirtschaft und Klima, lobte die gute Verhandlungsführung der Französischen Ratspräsidentschaft. Ihr sei es gelungen, divergierende Interessen zusammenzubringen und konkrete Ergebnisse zu erzielen, die der Sache dienen. Die tschechische Präsidentschaft will dies fortführen und bis zum Jahresende zu den wichtigsten Dossiers zu Ergebnissen kommen. Goeke strich heraus, dass die Dialogfähigkeit zwischen Politik und Industrie ist besser geworden sei. Das deutsche Dekarbonisierungsprogramm ist in intensivem Dialog mit der Industrie entstanden, und noch nie gab es so viel Dialog wie heute. Richtig sei aber, Genehmigungsverfahren müssen schneller als 15-20 Jahre sein. Wir wollen zeigen, dass Dinge auch funktionieren, da ist derzeit ein unheimlicher Lernprozess da. Bei letzten G7-Treffen hat der Bundeskanzler die Idee eines Klimaclubs nach vorne gebracht. Dieser sei eine diplomatische Einladung an andere Staaten, etwa Mechanismen wie den europäischen adjustment mechanism einzuführen. Die Europäische Kommission hat vorgeschlagen, einen Mechanismus zur Anpassung der Kohlenstoffgrenzwerte (CBAM) einzuführen, um den Schutz der energieintensiven Industrien in Europa, die dem Kohlenstoffpreis im EU-Emissionshandelssystem unterliegen, vor carbon leakage zu verbessern. An die Schwellenländer sollte man das Signal senden, die Einnahmen zu verwenden, um beispielsweise in den Klimaschutz in Entwicklungsländern zu investieren. Gut sei auch, dass die EU klar zu erkennen gegeben hat, dass sie die soziale Frage sieht. Der Klimasozialfonds ist ein gutes und wichtiges Signal. Man müsse aber auch klar machen, dass wir nicht alle sozialen Probleme lösen können, sonst übernimmt man sich. Gerade manche Staaten Mittel- und Osteuropas zeigen, dass wir Lösungen finden müssen, die alle Akteure mitnehmen, damit Europa als etwas wahrgenommen wird, dass die sozialen Aspekte adressiert. Ohne Akzeptanz in Öffentlichkeit für die Veränderungen, die wir den Menschen abverlangen, wird es nicht gehen.
Durch die Veranstaltung führte Moderatorin Silke Wettach, EU-Korrespondentin der Wirtschaftswoche.